Stephan Vorwergk, Leiter des Nachbarschaftsprojekt „Dresdner59“ in leipzig, spricht im Interview offen über Herausforderungen der Integrationsarbeit wie etwa Alltagsrassismus oder Konflikte unter den Besucher*innen. Gleichzeitig betont er die Notwendigkeit, demokratische Werte zu fördern und setzt sich für das Verständnis einervielfältigen Gesellschaft ein.
Allegra Wendemuth führte das Interview.
Stephan, auf eurer Webseite steht, dass ihr die Angebote seit 2016 um Integrationsarbeit ergänzt habt. Wie muss man sich das denn vorstellen, wenn jemand noch nie hier war und dann zum ersten Mal kommt? Wie entwickelt sich das dann weiter?
Man kommt einfach zum Nachbarschaftscafé, guckt am Tag, ob es passt, ob man Leute findet, mit denen man ins Gespräch kommt. Genau, und dann kann man sozusagen in die anderen Angebote des Hauses abbiegen, so würde ich das nennen. Manche kommen auch gezielt nur zu Fachangeboten, aber man kann in die Theatergruppe einsteigen oder den Spanisch-Deutschen Tandemchor, der singt sehr niedrigschwellig, das ist sehr beliebt. Wir gehen auch zu Demonstrationen, um ein politisches Bewusstsein zu schaffen, bieten Weiterbildungsabende und Themenabende an. Wir versuchen, das auch so zu etablieren, dass Menschen, die neu ankommen, sobald es sprachlich irgendwie geht, hier direkt ehrenamtliche Aufgaben übernehmen. Und damit eigentlich auch in die Entscheidungsvorgänge im Haus mit eingebaut sind.
Stephan Vorwergk
leitet vier Jahren das Nachbarschaftsprojekt „Dresdner59“ im Leipziger Stadtteil Reudnitz-Thonberg. Der Ort schafft einen Raum für Begegnung, Beteiligung und Integration. Neben dem wöchentlichen Zusammenkommen im hauseigenen Cafe können die Besucher*innen an einer Vielzahl von Angeboten teilnehmen und sich ehrenamtlich engagieren. Von Sprachkursen bis hin zu einer Bastelwerkstatt ist für Menschen jeden Alters, jeder Herkunft und Religion etwas dabei. Das Projekt ist in Trägerschaft der Ev.-Luth. Dreifaltigkeitskirchgemeinde und der Diakonie.
Klingt gut. Gibt es denn bei den Begegnungen auch Herausforderungen oder Konflikte untereinander?
Das gibt es regelmäßig. Es ist eine Beobachtung, dass Menschen eine ehrenamtliche Aufgabe übernehmen, wenn sie selbst in einer Krise sind. Also wenn sie merken, ich brauche einen Entwicklungsschritt, ich brauche neue Menschen, um mich zu entwickeln oder auch zu stabilisieren. Wir haben hier auch Menschen mit psychischen Erkrankungen. Wir haben Menschen ganz unterschiedlicher Kulturen. Wir haben verschiedene Dominanz- und Rückzugsverhalten. Wir sind ein Projekt, wo Leute regelmäßig viel Zeit miteinander verbringen und dann auch Aufgaben übernehmen und plötzlich aufeinander angewiesen sind. Das bringt durchaus auch Reibung mit sich.

Apropos Konflikte – Die AfD ist ja besonders in den letzten Wochen, auch hinsichtlich der Ergebnisse der Europawahl, ziemlich stark geworden in Ostdeutschland. Habt ihr da auch einen zunehmenden Hass gegenüber Geflüchteten wahrgenommen?
Also, was uns beschäftigt, ist antimuslimischer Rassismus. Das ist ein Alltagsrassismus und der ist erstmal noch weit davon entfernt, dass Menschen als nächstes irgendwie AfD wählen würden. Wir sind auch hier im relativ linken Leipziger Osten. Nichtsdestotrotz ist es etwas, was begegnet, wo unsere Besucher:innen auch drüber sprechen. Wir sind erstmal sehr froh darüber, dass es ja auch für die Menschen, die aus verschiedenen miteinander verfeindeten Ländern kommen, hier die ganz andere Aufgabe gibt, nämlich: Okay, wir leben hier auf der Basis einer Demokratie, die alle betrifft, und da kann man das Thema nochmal neu anfangen. Man kann seine Geschichte nicht abstreifen, aber man kann es hier anders leben als zu Hause. Und wir versuchen, diesen Schritt mit den Menschen ganz bewusst zu gehen, und deswegen sind auch demokratiestärkende Programme total wichtig.
Wir sind auch besorgt darüber, dass mit einer erstarkten AfD-Opposition eine Art vorauseilender Gehorsam entstehen könnte, selbst ohne eine Regierungsbeteiligung der AfD. Dies könnte dazu führen, dass wichtige Bereiche wie die Demokratieförderung, politische Arbeit und Integrationsbemühungen weniger finanzielle Mittel erhalten.
Jetzt muss ich nochmal nachhaken. Wie genau fördert ihr denn das Demokratieverständnis?
Wir arbeiten hier daran, etwas zu schaffen, das bundesrepublikanisch schon klarer ist. In ostdeutschen Städten auch, auf dem Land jedoch noch nicht. Unsere Gesellschaft kann immer weniger auf gemeinsame Selbstverständlichkeiten zurückgreifen. Wir müssen unsere Institutionen und Abläufe in einer diverser werdenden Gesellschaft aushandeln. Hier kann man exemplarisch lernen, wie das geht. Das betrifft auch das Demokratieverständnis.
Wir müssen uns darüber bewusst sein, dass Menschen aus anderen Ländern oft keine Demokratieerfahrung haben. Es ist enttäuschend, dass Menschen, die aus Diktaturen in die Freiheit kommen wollen und hoffen, in einem Land mit großen Menschenrechten zu leben, Rassismus erfahren. Dieser Rassismus schwächt die Demokratie und lässt Betroffene an ihr zweifeln. Deswegen sollte man Demokratie als ständigen Lernprozess verstehen. Es geht darum zu reflektieren, was uns aufgrund unserer bisherigen Erfahrungen daran hindert, uns einzubringen und mit verschiedenen Menschen zu lernen. Dieser Prozess betrifft alle, unabhängig von ihrer Herkunft.

Was würdest du dir denn im Umgang mit Menschen, die hierher kommen und noch nicht so gut angekommen sind, wünschen?
Da gilt eine gute Portion Neugier, die nach dem Menschen als Menschen fragt und nicht nach dem Menschen in einer bestimmten Gruppierung. Diese Haltung braucht es, glaube ich.
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Von der Jugendweihe in Köln bis zur Aktivistin in der sächsischen Provinz, für die Ostproben Aufnehmen haben die Studierenden des Masterstudiengang Multimedia und Autorschaft der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg mit 18 Menschen gesprochen. Sie wollten herausfinden, wie die Menschen sich und die Zuschreibungen an den Osten sehen. Dabei werden Stereotype bestätigt und hinterfragt, Realitäten eingefangen, Vergangenes und Utopien angesprochen.
Über OSTPROBEN
Ist Osten nur eine Himmelsrichtung oder eine Frage von politisch-gesellschaftlichen Realitäten? Mit dieser Frage hat sich der aktuelle Jahrgang des Masters Multimedia und Autorschaft (MMA) im Sommer 2024 unter der Leitung von Maren Schuster und Christian Stewen journalistisch auseinandergesetzt.
Ankerpunkt war das Festival OSTEN (1. Bis 16. Juni 2024) in Bitterfeld-Wolfen. Die Studierenden sind für die Festivalbeiträge gemeinsam mit den beiden Wissenschaftler*innen den Fragen nach Zuschreibungen an den Osten nachgegangen und haben dafür im Sommer 2024 in Bitterfeld, Wolfen, auf dem Festival und anderswo ‚Ostproben‘ gesammelt.
Ein Projekt mit
Allegra Wendemuth
Master Multimedia und Autorschaft
In Kooperation mit
Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg