Inge Walther studierte in der DDR Ingenieurökonomie. Ein Studium, mit dem sie eine
leitende Position füllen könnte und das ihr nach der Wende als Diplom anerkannt wurde.
Doch das Leben hatte andere Pläne. Nach ihrem erfolgreichen Abschluss arbeitete sie
über 40 Jahre als Lohnbuchhalterin in der Agrargenossenschaft Barnstädt. Hier erzählt
sie, wie es war, in der DDR zu studieren und zu arbeiten, welche Überraschungen das
Leben für sie bereithielt, in welchen Momenten sie mehr Mut gebraucht hätte und wie
sie die Wende erlebte.
Charlotte Bock führte das Interview.
Was für ein Studium hast du in der damaligen DDR gemacht?
Ingenieurökonom für Landwirtschaft. Das waren zwei Jahre Direktstudium und ein Jahr Fernstudium. Das umfasste alles. Feldwirtschaft, Landwirtschaft, technisches Zeichnen, Recht. Das war ein umfassendes Gebiet, um überall einsetzbar zu sein. Aber man hat sich hauptsächlich auf die Landwirtschaft konzentriert. Uns wurde ab der Grundschule ein unheimlich großes Allgemeinwissen vermittelt. Man konnte jeden Beruf erlernen, überall einsteigen.
Wann hast du studiert?
Von 1968-71. 1965 habe ich die 10. Klasse abgeschlossen. Danach habe ich bis Februar 1968 Handelskauffrau in der VEAB in Wittenberg gelernt und in Querfurt gearbeitet. Dann wollte dort eine weiter studieren und hat mich gefragt, ob ich mit nach Greiz kommen will. Ich habe mich überreden lassen, bin durchgekommen und habe das Studium geschafft. 1971, mit 22, hatte ich meinen Abschluss.
Wie war das Studium für dich?
Es hat Spaß gemacht und wir haben viel unternommen, sind aber selten nach Hause gekommen, weil es zu weit war. Das Stipendium war auch ganz gering. Die Übernachtungen und das Essen waren kostenlos. Später mussten wir uns am Wochenende selbst verpflegen, da gab es ein paar Mark mehr. Während des Studiums habe ich meinen Mann kennengelernt und bin schwanger geworden. Wir haben im Februar geheiratet und ich bin hochschwanger zur Abschlussprüfung gefahren. Das war knallhart.
Inge Walther
geb. Hesse, wurde am 26. August 1948 in Lodersleben geboren. Ihre Eltern waren in der Landwirtschaft tätig und schlossen sich als hundertste Mitglieder der Loderslebener Genossenschaft an. Inge wollte nach der 10. Klasse ursprünglich eine Lehre zur Säuglingskrankenschwester beginnen, war aber von dem Umgang der Schwestern mit den kleinen Kindern so abgeschreckt, dass sie sich dagegen entschied. Sie wollte nie in die Landwirtschaft, doch nachdem ein Freund ihrer Eltern sie angesprochen hatte, ob sie bei ihm eine Ausbildung zu Handelskauffrau machen wolle, willigte sie ein. Nach der Ausbildung studierte sie und verbrachte ihr gesamtes Arbeitsleben bei der heutigen Agrargenossenschaft Barnstädt. 2013 ging sie schließlich in Rente. Noch heute ist sie mit ihrer Familie auf einem kleinen Hof zur Selbstversorgung in Esperstedt landwirtschaftlich tätig.
War das während des Fernstudiums?
Ja. Das letzte halbe Jahr war sehr schwer. Es ging mir nicht gut, wegen der Schwangerschaft. Du wolltest dann aber auch nicht hinschmeißen. Die anderen hatten eine Abschlussfeier, ich habe das alles verpasst und bin einzeln hingefahren. Mein Mann wollte nicht, dass ich danach eine leitende Position übernehme. Er war Meister im Kalkwerk und hatte drei Schichten. Hätte ich so viel gearbeitet, hätten wir das Kind nicht behalten können. Dann wurde jemand in der Landwirtschaft im Büro gesucht. Ich bin dorthin gegangen und war seitdem dort, seit 1971.
Und was hast du bei deiner Arbeit gemacht?
Die Lohnbuchhaltung, wir haben abgerechnet. Sie haben dir die Unterlagen gebracht, wie viele Stunden jeder hat und dafür gab es Arbeitseinheiten. Die haben wir umgerechnet. Eine Arbeitseinheit hat zehn Mark entsprochen. Danach wurde der Lohn gezahlt. Die Lohnbuchhaltung habe ich bis zum Schluss durchgeführt, bis 2013. Ich bin nie aus dem Betrieb raus.
Du warst also direkt bei der LPG?
Ja, ich war richtig LPG-Mitglied. Nach der Wende hätte sich die LPG auflösen können, aber wir waren 1000 Personen, durch die vielen Betriebe, die sie zusammengezogen haben, und da wurde reduziert. Viele sind in Vorruhestand gegangen, viele in die Rente und ein kleiner Teil hatte die Möglichkeit, Anteile zu kaufen und dabeizubleiben. Das habe ich gemacht.
Warst du für die Stelle mit deinem Studium überqualifiziert?
Ja, das ist überqualifiziert. Ich hätte mit meiner Lehre die Stelle machen können. Mit dem Studium hätte ich überall hingehen können. Ich hätte in jedes Büro gehen können, als Hauptbuchhalter, als Chef, überall. Aber ich war nicht der Typ dafür. Ich hätte mich nicht mit den Personen auseinandersetzen können. Ich habe dann die Stelle in Esperstedt angenommen, um mein Kind sehen zu können.
Wie lief das dann bei der Wende? Hattest du Angst um deinen Job oder deinen Abschluss?
Mein Abschluss wurde anerkannt, sogar als Diplom. Dafür musste man seine Dokumente nach Magdeburg schicken. Durch die Anteile konnte ich damals im Betrieb bleiben, aber geldmäßig hat man nicht mehr gekriegt. Die haben dich eingestellt, haben die Einheiten umgerechnet, haben das Geld umgerechnet, was du vorher verdient hast, und dir ein paar Mark mehr gegeben. Das hat sich nie erhöht. Ich habe immer ganz wenig verdient. Viele sind nach Halle oder Leipzig gefahren, aber ich war noch nie ein Autofahrer. Und durch mein Kind, das immer krank war, hatte ich nicht die Nerven dazu.
Und da habe ich auch gesagt, wenn ich jetzt woanders hingehe, was anderes lerne – ich hätte es gepackt, aber ich war zu der Zeit schon Mitte 40. Da musst du wirklich richtig gut sein. Wir waren dann irgendwie zu eingefahren, zu ängstlich, zu unentschlossen.
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Von der Jugendweihe in Köln bis zur Aktivistin in der sächsischen Provinz, für die Ostproben Aufnehmen haben die Studierenden des Masterstudiengang Multimedia und Autorschaft der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg mit 18 Menschen gesprochen. Sie wollten herausfinden, wie die Menschen sich und die Zuschreibungen an den Osten sehen. Dabei werden Stereotype bestätigt und hinterfragt, Realitäten eingefangen, Vergangenes und Utopien angesprochen.
Über OSTPROBEN
Ist Osten nur eine Himmelsrichtung oder eine Frage von politisch-gesellschaftlichen Realitäten? Mit dieser Frage hat sich der aktuelle Jahrgang des Masters Multimedia und Autorschaft (MMA) im Sommer 2024 unter der Leitung von Maren Schuster und Christian Stewen journalistisch auseinandergesetzt.
Ankerpunkt war das Festival OSTEN (1. Bis 16. Juni 2024) in Bitterfeld-Wolfen. Die Studierenden sind für die Festivalbeiträge gemeinsam mit den beiden Wissenschaftler*innen den Fragen nach Zuschreibungen an den Osten nachgegangen und haben dafür im Sommer 2024 in Bitterfeld, Wolfen, auf dem Festival und anderswo ‚Ostproben‘ gesammelt.
Ein Projekt mit
Charlotte Bock
Master Multimedia und Autorschaft
In Kooperation mit
Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg