„Es war auf einmal nicht normal, dass ich eine Jugendweihe hatte“

Über Wende-Erfahrungen und Alltagsbrüche. Wie Musiker Victor Gelling vergessene Geschichten erzählt und dabei zu sich selbst findet.

Oscar Krimm führte das Interview.

Victor Gelling vor dem Interview mit Gregor Gysi (Die Linke), Foto: Victor Gelling.

In seinem Dokumentarfilm „Die DDR hat es (nie) gegeben – Über Sichtbarkeit Ost- deutscher Perspektiven“ beleuchtet der aus Kleinmachnow stammende Victor Gelling die vielschichtigen Geschichten und Erfahrungen von 14 Personen aus Ostdeutschland. Der Film behandelt Themen wie das Frauenbild in der DDR, die turbulente Weinzeit, Rechtsextremismus und Ostalgie. Für den 26-jährigen, der hauptberuflich in Köln als Jazzmusiker und Performancekünstler tätig ist, ist es das erste Filmprojekt, das er vollständig allein umgesetzt hat. Dabei taucht er in die Geschichte und Gegenwart Ostdeutschlands ein, um oft übersehene Perspektiven und Stimmen sichtbar zu machen. Der Film, der im Frühjahr 2023 fertiggestellt wurde, feierte seine Vorpremieren im September 2023 in Berlin und Köln und ist seit dem 1. Juli auf YouTube frei verfügbar.

Im Interview spricht Victor Gelling über seine Beweggründe, die Auswahl seiner Interviewpartner*innen und die persönliche Reise, die er während der Filmproduktion erlebt hat.


Hallo Victor, vielen Dank, dass du dir die Zeit nimmst. Warum macht eigentlich ein Jazzmusiker einen Dokumentarfilm über Ostdeutschland?

Weil meine Eltern aus Ostdeutschland kommen. Nachdem ich fürs Studium nach Köln gezogen bin, in den tiefsten Westen, habe ich immer wieder gemerkt, dass es ein paar kleinere Reibereien gibt, bei denen ich überhaupt nicht einschätzen konnte, woher sie kommen oder warum gewisse Eindrücke mich immer so ein bisschen befremdlich irritiert haben. Und dadurch wurde dann ein Rechercheprojekt daraus und letzten Endes auch ein Film.

Was waren das für Reibereien?

Kurzum, ich bin nach Köln gezogen und habe gemerkt, dass ein paar Dinge, die ich bis jetzt als normal erachtet habe, so ein bisschen als sonderbar gekennzeichnet worden sind. Es war auf einmal nicht normal, dass ich so früh in die Kinderkrippe gekommen bin, es war auf einmal nicht normal, dass ich eine Jugendweihe hatte. Und das sind 20.000 kleine Dinge, die sich dann am Ende zusammengefügt haben.

Die Jugendweihe

ist seit 1852 eine festliche Initiation, die den Übergang ins Erwachsenenalter markiert. Besonders zu Zeiten des geteilten Deutschlands fand sie in der DDR große Verbreitung als atheistische Alternative zu religiösen Ritualen wie Konfirmation oder Bar/Bat Mitzwa.

Aber trotzdem bist du ja in erster Linie ein Musiker. Wieso denn dann ein Film?

Der Grund war ein Stipendium. Das war vor allen Dingen für eine Komposition. Da ich mich in dieser Zeit viel mit Sigmund Jähn und der Causa Sigmund Jähn befasst habe, habe ich eine Art Hörspiel über Sigmund Jähn, wo eine fiktionalisierte Version von ihm ins Weltall fliegt und auf fernen Planeten ein Abenteuer erlebt, geplant. Ursprünglich war der Film eigentlich nur so in 20 bis 30 Minuten gedacht, ein Begleitprogramm zu dieser Komposition. Und der ist dann aber immer größer und größer geworden und hat immer mehr Raum eingenommen, sodass ich am Ende gesagt habe: okay, jetzt committe ich mich vollständig.

Sigmund Jähn

war ein Kosmonaut der DDR und flog als erster Deutscher in den Weltraum.

Daraus ist jetzt ein eineinhalb Stunden langer Dokumentarfilm geworden mit insgesamt 14 Interviewpartner*innen. Nach welchen Kriterien hast du diese ausgewählt?

Völlig verschieden. Es gibt auf der einen Seite Privatpersonen, die ich interviewt habe. Weil ich eine sehr starke Alltagsperspektive wollte. Und auf der anderen Seite sind das natürlich Interviewpartner*innen, die eine gewisse Expertise haben. Also die Bücher darüber geschrieben haben, die wissenschaftliche Arbeiten dazu geschrieben haben. Gregor Gysi, der ja die Wendezeit auch maßgeblich mitgeprägt hat.

Victor Gelling in seinem Film im Gespräch mit dem Künstler Thomas Neumann (l.) und der Schauspielerin Ronja Oehler (r.), ©victorgelling.

Gegen Ende des Films teilst du eine sehr persönliche Geschichte, nämlich die deines Großvaters, der die meiste Zeit seines Lebens DDR-Bürger war und während der Entstehung des Films verstorben ist. Wie haben sein Leben und sein Tod deine Arbeit an dem Dokumentarfilm geprägt?

Ich glaube, dass ein Teil von mir es schon auch wichtig fand, seine Geschichte festzuhalten. Ich möchte einfach, dass die Biografie meines Opas auch anerkannt wird. Dass es jetzt so zusammengefallen ist, war ein Zufall. Aber in dem Moment, wo ich die ganze Recherche schon hinter mir hatte und meinen Film schon formuliert hatte und ich sehe auf einmal nach seinem Ableben diese ganzen Akten vom Arbeitsamt, seine Stasi-Akte, die er eingefordert hat, dann wurde dieser Film auf einer ganz anderen Ebene nochmal persönlich für mich.

Persönlich, weil er ja auch so ein bisschen dein Verhältnis zu deiner Ost- Identität beleuchtet. Wie hat sich dein Blick durch diesen Film auf deine ostdeutsche Identität verändert?

Ich glaube, es hat sich innerhalb des Films auch schon mehrfach verändert. Weil es auf jeden Fall auch eine Zeit gab, wo ich nicht mehr darüber reden wollte, weil ich mich so intensiv mit so einem Thema beschäftigt habe. Trotzdem war es auch ein schöner Moment, als ich gemerkt habe, da sind so viele Menschen, die ähnliche Gedanken zu diesem Thema haben. Das hat mir einfach sehr viel Bestätigung gegeben. Vor allem in meiner Post-Ost-Identität. Ich bin Jahrgang 98. Ich glaube, dass nachdem das Thema so einen großen Fokus mit Hilfe des Films und der Klärung dieser Frage bekommen hat, es sich jetzt so ein bisschen normalisiert hat und ich es einfach als Teil von mir anerkennen kann. Ich aber auch nicht möchte, dass es das einzige ist, als was ich gelesen werde.

Von der Jugendweihe in Köln bis zur Aktivistin in der sächsischen Provinz, für die Ostproben Aufnehmen haben die Studierenden des Masterstudiengang Multimedia und Autorschaft der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg mit 18 Menschen gesprochen. Sie wollten herausfinden, wie die Menschen sich und die Zuschreibungen an den Osten sehen. Dabei werden Stereotype bestätigt und hinterfragt, Realitäten eingefangen, Vergangenes und Utopien angesprochen. 

Über OSTPROBEN

Ist Osten nur eine Himmelsrichtung oder eine Frage von politisch-gesellschaftlichen Realitäten? Mit dieser Frage hat sich der aktuelle Jahrgang des Masters Multimedia und Autorschaft (MMA) im Sommer 2024 unter der Leitung von Maren Schuster und Christian Stewen journalistisch auseinandergesetzt.

Ankerpunkt war das Festival OSTEN (1. Bis 16. Juni 2024) in Bitterfeld-Wolfen. Die Studierenden sind für die Festivalbeiträge gemeinsam mit den beiden Wissenschaftler*innen den Fragen nach Zuschreibungen an den Osten nachgegangen und haben dafür im Sommer 2024 in Bitterfeld, Wolfen, auf dem Festival und anderswo ‚Ostproben‘ gesammelt.


Ein Projekt mit

Oscar Krimm

Multimedia und Autorschaft

In Kooperation mit

Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

Weitere Themen

  • Projekt: Bitterfelder Weg
  • Projekt: Bernstein
  • Projekt: Freiräume