Fachwerk, Plattenbau und die Frage nach Heimat

Aufgewachsen im malerischen Bamberg, stößt meine Schwester bei einer Stadttour durch Halle-Neustadt auf einen völlig anderen städtebaulichen Charakter – geprägt von den sowjetischen Plattenbauten der DDR-Zeit. In einem Interview arbeiten wir das Erlebnis auf und begeben uns dabei auf eine gedankliche Reise durch Städtebilder, kulturelle Identitäten und Heimat. 

Nicole Scheermann führte das Interview.

Du bist in Bamberg aufgewachsen und hast dein bisheriges Leben fast ausschließlich dort verbracht. Was würdest du sagen: Wie stellst du dir eine typisch deutsche Stadt vor?

Schon ein bisschen so wie Bamberg oder auch Coburg. Also eine Stadt, die viel Fachwerk hat und kleine Gebäude, die eher mittelalterlich aussieht, kleine Gassen, nicht so große Wege…

Warum würdest du das als „typisch deutsch“ beschreiben?

Puh, das ist schwer zu beantworten. Ich denke einfach, weil ich hier aufgewachsen bin. Das prägt meine Vorstellung davon, was „typisch deutsch“ ist. Ich habe noch nicht so viele andere Städte gesehen und wenn ich mir andere Kleinstädte, in denen ich bisher war, anschaue, dann ist es dort sehr ähnlich. Er gibt einen kleinen Marktplatz, ein Rathaus und einen Altstadtkern. Ich denke, dass das auch in vielen anderen Städten in Deutschland so ist.

Infokasten

Viele der Häuser, die in der DDR und der Sowjetunion entstanden sind, waren Übergangslösungen, die im Zuge des durch den Krieg ausgelösten Wohnungsmangeln entstanden sind. Sie werden auch Khrushchevkas genannt – benannt nach Stalins Nachfolger Krushchev, der den Bau der „Platten“ veranlasst hat. Sie waren einfach zu bauen, aber sehr klein und kompakt. Sobald das Wohnungsproblem gelöst war, sollten „richtige“ Häuser errichtet werden. Das ist aber nie passiert und so sind sie einfach stehen geblieben und prägen bis heute das Stadtbild von ehemaligen DDR-Gebieten. Teilweise prägt dieser Architekturstil auch Teile der westdeutschen Architektur, es gab nämlich Wohnprojekte, die diesem Baustil nachempfunden waren.

Als du mich besucht hast, sind wir durch Halle-Neustadt gelaufen. Was würdest du sagen, sind die entscheidenden Unterschiede zu Bamberg?

Wir sind mit der Straßenbahn ja an so einer großen Hauptstraße entlanggefahren. Dort gab es viele große Wohnblöcke, die alle gleich aussahen. Hier in Bamberg sind die Häuser viel kleiner und alle unterschiedlich. Und besonders diese riesige, lange Straße hat mich eher an Russland beziehungsweise die Sowjetunion erinnert.

Warum hat dich das an Russland erinnert?

Mama hat mir mal ein Bild gezeigt, auf dem sie als kleines Mädchen vor ihrem Wohnhaus, einem Plattenbau in Karaganda, stand. Es gab auf dem Bild auch eine große Straße und es sah etwas ausgestorben aus. Halle-Neustadt hat mir ein ähnliches Gefühl vermittelt. Es war dort irgendwie so leer, viele Häuser waren verlassen und sahen auch ähnlich aus, wie auf dem Bild von Mama. Die Plattenbauten haben auf mich fast schon abschreckend gewirkt. Als wäre es einfach zum Zweck hingebaut worden, damit viele Familien dort wohnen können.

Aber gibt es diese Art von Architektur nicht überall in Deutschland? Auch in Bamberg gibt es Plattenbauten, oder Häuser, die zumindest daran erinnern.

In Bamberg gibt es das auch, ja. So große Hochhäuser, wie in Halle-Neustadt gibt es in Bamberg aber nicht. In Halle-Neustadt erkennt man die sowjetischen Einflüsse schon sehr stark.

Sind diese Häuser nicht trotzdem „typisch“ Deutsch? Die DDR ist ja auch Teil der gesamtdeutschen Geschichte.

Ja, das stimmt, wenn man das so betrachtet, hast du recht.

Du hast diese Art der Architektur jetzt recht negativ beschrieben. Was meinst du, hat diese negativen Gefühle dazu in dir ausgelöst?

Ich denke, es liegt vor allem daran, dass wir auch in einem Plattenbau-mäßigen Hochhaus aufgewachsen sind und ich mich als Kind oft dafür geschämt habe, dass unser Haus nicht so aussieht, wie die Einfamilienhäuser meiner Mitschülerinnen. Aber unser russischer Migrationshintergrund beeinflusst ebenfalls meine Meinung zu dieser Art von Architektur. Ich habe zwar viele negative Dinge gesagt, trotzdem fühlt es sich an solchen Orten an, wie zu Hause sein. Auch wenn wir selbst nie in Kasachstan waren, wo unsere Eltern überwiegend gelebt haben, und ich mich nicht viel daran erinnern kann, wie es war, als wir bei unserer Oma in Belarus waren, kann ich mich schon noch an Umrisse erinnern und wie die Häuser dort aussahen. Deswegen hatte ich auch viele positive Gefühle, als wir durch Halle-Neustadt gefahren sind. Es hat mich an unsere Eltern erinnert und es hat sich gut angefühlt, an einem Ort zu sein, der einen an seine Wurzeln erinnert.

So geht es mir auch, wenn ich durch Halle-Neustadt laufe. Danke für deine Eindrücke!

Sehr gerne!

Von der Jugendweihe in Köln bis zur Aktivistin in der sächsischen Provinz, für die Ostproben Aufnehmen haben die Studierenden des Masterstudiengang Multimedia und Autorschaft der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg mit 18 Menschen gesprochen. Sie wollten herausfinden, wie die Menschen sich und die Zuschreibungen an den Osten sehen. Dabei werden Stereotype bestätigt und hinterfragt, Realitäten eingefangen, Vergangenes und Utopien angesprochen. 

Über OSTPROBEN

Ist Osten nur eine Himmelsrichtung oder eine Frage von politisch-gesellschaftlichen Realitäten? Mit dieser Frage hat sich der aktuelle Jahrgang des Masters Multimedia und Autorschaft (MMA) im Sommer 2024 unter der Leitung von Maren Schuster und Christian Stewen journalistisch auseinandergesetzt.

Ankerpunkt war das Festival OSTEN (1. Bis 16. Juni 2024) in Bitterfeld-Wolfen. Die Studierenden sind für die Festivalbeiträge gemeinsam mit den beiden Wissenschaftler*innen den Fragen nach Zuschreibungen an den Osten nachgegangen und haben dafür im Sommer 2024 in Bitterfeld, Wolfen, auf dem Festival und anderswo ‚Ostproben‘ gesammelt.

Ein Projekt mit

Nicole Scheermann
Master Multimedia und Autorschaft

In Kooperation mit

Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

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