„Für mich ist der Begriff ‚Ossi‘ noch sehr geschichtlich“

Thomas Böttcher ist Moderator, Schauspieler und Kabarettist. Im Interview redet Thomas Böttcher über seine Erfahrungen, seine Perspektive auf „Ostidentität“ und beleuchtet die aktuelle Situation im Osten Deutschlands.

Lea Büttner führte das Interview.


Ich habe gelesen, dass Sie Ihre Ausbildung in Bitterfeld gemacht haben. Wie war das?

Ach Gott, ich war 16 und mein Vater hat sein Leben lang in Bitterfeld im Chemiekombinat gearbeitet. Ich wollte gerne Elektriker lernen und habe dann über meinen Vater eine Lehrstelle bei ihm in Bitterfeld bekommen. Das war dreckig, stinkig und alles war chemisch verseucht. Ich fand das ganz, ganz schlimm in Bitterfeld, muss ich ganz ehrlich sagen. Ich hatte auch Angst, in diesen Werken herumzulaufen, weil es dort viele undichte Ventile gab. Ich hatte das große Glück, dass ich 25 Kilometer weiter weg in Delitzsch gewohnt habe. Abgesehen von der üblichen Ost-Grau-Kulisse, Farblosigkeit und tristen Umwelt, die es in jeder Stadt gab, war es in Bitterfeld eben noch extremer. Nach meiner Ausbildung wollte ich nur noch raus aus Bitterfeld.

Hat Ihre Herkunft aus dem Osten Ihre berufliche Laufbahn negativ beeinflusst?

Nein. Ganz im Gegenteil. Eben weil ich aus dem Osten war, habe ich diese Radiokarriere machen können. Radio PSR ist ja als erster sächsischer privater Rundfunk gestartet. Die haben ganz bewusst auf die Ostidentität und Mentalität gesetzt, weil sie eben nicht wollten, dass der fünfte Wessi aus Baden-Württemberg ins Radio kommt und irgendwas erzählt. Dazu muss man aber auch sagen, dass es eine andere Zeit war. Damals war hier alles im Umbruch. Aber dadurch, dass viele schwarze Schafe in den Osten gekommen sind, war es ganz normal, dass dieses Feindbild „der Wessi“ aufgebaut wurde. Und das hält ja bis heute an. Das lag an einzelnen Leuten, die die großartige Arbeit von vielen wirklich hilfsbereiten Menschen, kaputt gemacht haben. Denn viel mehr sind aus dem Westen hierhergekommen und haben gesagt: Wir sehen was hier los ist, wir ziehen in den Osten, wir helfen mit und wir unterstützen euch.

Thomas Böttcher

ist in Delitzsch aufgewachsen. Nach einer Ausbildung als Elektriker in Bitterfeld arbeitete er bis 1987 als Jugendklubleiter in Delitzsch. Über eine Kollegin erfuhr er von einer Stellenausschreibung und bewarb sich bei Radio PSR in Leipzig. 1992 wurde Thomas Böttcher als dritter Mitarbeiter eingestellt und wurde vor allem durch seine Arbeit in der Morningshow „Böttcher & Fischer“ bekannt.

Thomas Böttcher, Foto: Joerg Quiter

Haben Sie dann das Gefühl, dass sich der Osten und Westen jetzt wieder voneinander entfernen?

Ich hatte tatsächlich Mitte der 2000er Jahre ein bisschen den Eindruck, dass wir alle in diesem Land auf einem recht guten Weg wären, auch was die Verständigung und das Verständnis füreinander angeht. Jetzt aber weiß ich nicht, ob sich West und Ost voneinander entfernen oder ob sich nicht ganz Deutschland gerade von Demokratie und von einer Gesellschaftsordnung entfernt. Heute ist für mich die Herausforderung, diesen Tendenzen entgegenzuwirken und zu sehen, dass wir in einem großartigen Land mit Pressefreiheit, einem Bildungs- und Gesundheitssystem und Demokratie leben.

Zum Abschluss: Was bedeutet „Ostidentität“ für Sie? 

Für mich ist der Begriff „Ossi“ zu sein noch sehr geschichtlich und diese Prägung setzt sich aus vielen kleinen Erfahrungen zusammen. Wenn ich heute im Radio mal einen Titel von einer Ostband höre, den ich lang nicht gehört habe, dann freue ich mich. Dann denke ich „ach Mensch, gucke, das gab es ja auch noch, diese Mucke“. Irgendjemand hat über die ganzen Biografien, die wir hier hatten, den Oberbegriff „Wessi“ und „Ossi“ drüber gestülpt, aber eigentlich hat jeder Einzelne seine eigenen Erfahrungen gemacht. Positive und negative. Jeder hat im Kopf seine eigene Assoziation mit dem Begriff „Ossi“ und „Wessi“.

Von der Jugendweihe in Köln bis zur Aktivistin in der sächsischen Provinz, für die Ostproben Aufnehmen haben die Studierenden des Masterstudiengang Multimedia und Autorschaft der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg mit 18 Menschen gesprochen. Sie wollten herausfinden, wie die Menschen sich und die Zuschreibungen an den Osten sehen. Dabei werden Stereotype bestätigt und hinterfragt, Realitäten eingefangen, Vergangenes und Utopien angesprochen. 

Über OSTPROBEN

Ist Osten nur eine Himmelsrichtung oder eine Frage von politisch-gesellschaftlichen Realitäten? Mit dieser Frage hat sich der aktuelle Jahrgang des Masters Multimedia und Autorschaft (MMA) im Sommer 2024 unter der Leitung von Maren Schuster und Christian Stewen journalistisch auseinandergesetzt.

Ankerpunkt war das Festival OSTEN (1. Bis 16. Juni 2024) in Bitterfeld-Wolfen. Die Studierenden sind für die Festivalbeiträge gemeinsam mit den beiden Wissenschaftler*innen den Fragen nach Zuschreibungen an den Osten nachgegangen und haben dafür im Sommer 2024 in Bitterfeld, Wolfen, auf dem Festival und anderswo ‚Ostproben‘ gesammelt.

Ein Projekt mit

Lea Büttner
Master Multimedia und Autorschaft

In Kooperation mit

Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

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