„Ich habe nicht die richtigen Worte gefunden“

Caroline Vongries (62) ist Journalistin, Autorin und Dozentin. Die gebürtige
Aschaffenburgerin hat in Sachsen-Anhalt ihre neue Heimat gefunden, dem
Journalismus aufgrund ihrer Nachwende-Erfahrungen aber den Rücken gekehrt.
Ein Gespräch über zermürbende Umbrüche, belegbare westdeutsche Klischees
und ein neues Ost-Bewusstsein.

Clemens Kral führte das Interview.

Caroline Vongries zog es nach der Wiedervereinigung nach Ostdeutschland. Die gelernte Journalistin lebt seit vielen
Jahren in Aschersleben. Dort produziert sie unter anderem Podcasts in einem nichtkommerziellen Lokalradio, Foto: Clemens Kral.


Frau Vongries, Sie kennen viele Orte in der Republik und auch beide Seiten der Geschichte. Nehmen Sie selbst noch einen Ost-West-Unterschied wahr? 

Seit ich 1991 im Osten bin, haben sich viele Dinge angeglichen. Trotzdem fühle ich mich im Osten wohler. Die Leute können ehrlicher miteinander umgehen, vielleicht auch, weil sie kollektiv bestimmte Brüche erlebt haben und zwangsweise als Gemeinscha agieren mussten. 

Wo merken Sie diese Ehrlichkeit besonders? 

Es ist hier zum Beispiel nicht so schlimm, wenn ich sage: Ich war mal arbeitslos. Im Westen sagt man das in bestimmten Kreisen einfach nicht. Als ich Volontärin bei den „Potsdamer Neuesten

Nachrichten“ war, ist der Chefredakteur mit uns in die Schulkantine essen gegangen. Das hätte es im Westen aufgrund der Status-Unterschiede nicht gegeben! Da habe ich wirklich den Vergleich: Zeitung im Westen, Zeitung im Osten. 

Trotz der für Sie angenehmen Erfahrungen hängen Sie Ihren Job nach dem Volontariat an den Nagel. Warum? 

Damals in Potsdam waren wir drei Volontäre aus dem Westen und eine ostdeutsche Volontärin. Irgendwann habe ich gemerkt, dass wir Westdeutsche bevorzugt werden, wohlgemerkt vom Chefredakteur aus dem Osten. Das Selbstbewusstsein mancher Ostdeutscher gegenüber uns „Wessis“ war zu der Zeit einfach nicht selbstverständlich. Man war lieber noch ruhig, hat zugehört und sich kaum beschwert. 

Wir Westdeutsche galten dagegen im Redaktionsalltag als Ansprechpartner oder Experten – die wir aber eigentlich nicht waren. Eine schiefe Situation: Wie soll ich als „Wessi“ für Ostdeutsche schreiben, die etwas ganz anderes erleben als ich, und dann anderswo mit dieser Erfahrung für Westdeutsche schreiben, die sich dafür gar nicht interessieren? Ich habe nicht die richtigen Worte gefunden. 

In einem Artikel einer Lokalzeitung über Sie heißt es jedoch, dass viele Sie für eine Ostdeutsche gehalten hätten… 

Die Westdeutschen dachten, dass alle Volontäre aus dem Osten kommen. Einmal sagte in einer Pressekonferenz ein westdeutscher Bauingenieur zu mir: „Na Mädchen, habt ihr denn überhaupt schon Computer bei euch in der Zeitung?“ So etwas ist mir mehrfach passiert. 

Was macht das mit Ihnen? 

Ich habe dadurch ein Gefühl entwickelt, wie kränkend der Umgang mit den Ostdeutschen gewesen sein muss. Nicht von allen „Wessis“, aber von viel zu vielen. Etliche Leistungen wurden nicht gewürdigt. 

Es ist peinlich, wenn Menschen aus dem Westen, die hier arbeiten, immer noch nicht verstehen, warum manche Menschen in Ostdeutschland sich wirklich verletzt gefühlt haben. Damals ist das echt unsäglich gewesen, und nicht nur im Zeitungsbereich, sondern überall. Die Arroganz steckt den Menschen in Ostdeutschland heute noch in den Knochen. 

Was können wir unternehmen, um das Selbstwertgefühl dieser Menschen wieder zu steigern? 

Zum einen braucht es mehr Ostdeutsche in gehobenen Positionen. Überall, wirklich. Außerdem sollten in den Medien mehr ostdeutsche Perspektiven abgebildet werden. Ich erzähle nichts Neues, aber bislang ist das nicht in dem Umfang passiert. Das westdeutsche Mediensystem und damit auch die Möglichkeiten wurden einfach übernommen. Ich hätte es begrüßt, wenn etwas Neues entwickelt worden wäre. 

Dann braucht es die nächsten Generationen, die manches anders erlebt haben. Es gibt aber auch Leute, die sind verloren, die hören nicht mehr zu. Ich weiß nicht, wie man die wieder für sich gewinnen kann. 

Was aber künige Transformationsprozesse angeht – Umwelt, Krieg, ärmere Länder –, darauf sind alle ostdeutschen Generationen durch die eigenen Transformationen besser vorbereitet als die Menschen im Westen. Diesen Mut, diese Rebellion bräuchten wir, um die Demokratie zukunftstauglich zu machen. Ich glaube nicht, dass das hauptsächlich vom Westen passiert.

Von der Jugendweihe in Köln bis zur Aktivistin in der sächsischen Provinz, für die Ostproben Aufnehmen haben die Studierenden des Masterstudiengang Multimedia und Autorschaft der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg mit 18 Menschen gesprochen. Sie wollten herausfinden, wie die Menschen sich und die Zuschreibungen an den Osten sehen. Dabei werden Stereotype bestätigt und hinterfragt, Realitäten eingefangen, Vergangenes und Utopien angesprochen. 

Über OSTPROBEN

Ist Osten nur eine Himmelsrichtung oder eine Frage von politisch-gesellschaftlichen Realitäten? Mit dieser Frage hat sich der aktuelle Jahrgang des Masters Multimedia und Autorschaft (MMA) im Sommer 2024 unter der Leitung von Maren Schuster und Christian Stewen journalistisch auseinandergesetzt.

Ankerpunkt war das Festival OSTEN (1. Bis 16. Juni 2024) in Bitterfeld-Wolfen. Die Studierenden sind für die Festivalbeiträge gemeinsam mit den beiden Wissenschaftler*innen den Fragen nach Zuschreibungen an den Osten nachgegangen und haben dafür im Sommer 2024 in Bitterfeld, Wolfen, auf dem Festival und anderswo ‚Ostproben‘ gesammelt.

Ein Projekt mit

Clemens Kral
Master Multimedia und Autorschaft

In Kooperation mit

Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

Weitere Themen

  • Projekt: Bild vom Osten
  • Projekt: Filmfabrik
  • Projekt: Bernstein