„Ich wollte nie wieder zurück in die Ostprovinz“

Cindy Reimer ist sich über vieles klar: Eine antifaschistische Haltung sollte Standard sein und in der sächsischen Provinz lässt es sich, eigentlich, nicht leben. Dennoch ist die 32-jährige nach Stationen in Berlin, Norderney und Bayern, wieder zurückgekehrt. Umso mehr setzt sie sich jetzt in Politik und Zivilgesellschaft dafür ein, dass sich etwas ändert. 

Annika Seiferlein führte das Interview.



Frau Reimer, Sie sind in Mittelsachsen, genauer in Hartha, aufgewachsen. Können Sie uns einen Einblick geben, wie Ihre Jugend dort ausgesehen hat?

Ich selbst habe mich total viel im Nachbarort in Leisnig aufgehalten. Dort bin ich politisiert worden, sag ich mal, also im Alternativen Jugendzentrum Leisnig (AJZ) und im Verein Treibhaus in Döbeln. Das hat mich relativ früh politisch geprägt. Ich hatte das Gefühl, dass man als Jugendlicher nicht neutral sein konnte. Entweder waren die Leute früh rechts oder man war Feindbild, weil man eben Zecke war. Da kann ich mich auch noch daran erinnern, dass wir wirklich so die Reste der Baseballschlägerjahre mitbekommen haben. Wir haben immer überlegt, wie wir nach Hause kommen: ‚Wird da langgelaufen oder gehen wir lieber eine halbe Stunde Umweg und schleichen uns durch?‘. Mit 15 wurde ich das erste Mal wirklich doll von erwachsenen Männern krankenhausreif geprügelt, von Neonazis. Kurz bevor ich 18 wurde, bin ich dann nach Berlin gezogen und hab mein Abitur dort gemacht. Als ich damals gegangen bin, habe ich gesagt: ‚Ich ziehe nie wieder in die Ostprovinz‘.

Cindy Reimer

ist Kirchenmalermeisterin. Sie wohnt mit ihrem Partner und einjährigem Sohn in Waldheim. Dort hat sie das Demokratie-bündnis „Die bunten Perlen Waldheim“ mitgegründet. Seit den letzten Lokalwahlen sitzt sie für die Linke als Fraktions-vorsitzende im Kreistag Mittelsachsen.

Cindy Reimer, Foto: privat.

Die meisten 17-jährigen würden wahrscheinlich zu dieser Zeit noch die Nähe zur Familie und zu Freund*innen bevorzugen. Können Sie genauer darauf eingehen, warum Sie damals gegangen sind?

Genau, deshalb eigentlich. Dass ich gesagt habe, hier sind halt überall Faschos, selbst in der Schule. Man konnte sich nicht mehr frei bewegen. Unabhängig davon hatte ich auch keinen guten Draht zu meinem Elternhaus. Ich war da immer die Linksextreme. Ich hatte das Gefühl, dass man vor Ort zivilgesellschaftlich nichts erreicht. Ich denke, dass Antifaschismus nicht etwas ist, das linksextrem ist, sondern, dass das in der Gesellschaft schon angekommen sein sollte.

Nach Ihrer Zeit in Berlin waren Sie kurz wieder hier und sind dann nach Norderney und München, bevor Sie endgültig zurückgekehrt sind. Wie kam es dazu?

Während meiner Zeit in Bayern ist irgendwann das Bedürfnis aufgekommen, mich wieder mehr zu engagieren. Erst als ich mit meinem Freund zusammengekommen bin, haben wir überlegt, ob wir in Waldheim bleiben sollen, da er hier schon ein Haus hatte. Wir kennen uns seit der Kindheit. Wir saßen dann am Küchentisch und haben super lange überlegt, ob wir hierbleiben. Ich weiß noch, dass ich gesagt habe: ‚Ich werde hier immer den Mund aufmachen‘.

Das Bündnis „Die bunten Perlen Waldheim“, Foto: privat.

Anfang 2024 haben Sie das Bündnis „Die bunten Perlen Waldheim“ mitgegründet. Wie steht es jetzt um die Zivilgesellschaft fast zwanzig Jahre später?

Es gibt auf jeden Fall eine gute Bürger*inneninitiativenstruktur, die auch untereinander vernetzt ist. Was auch daran liegt, dass im kompletten Altkreis Döbeln immer dieselben 25 bis 30 Leute aktiv sind, würde ich sagen. Das ist sehr anstrengend, weil sehr wenig Leute da sind, für sehr viele Dinge, die bespielt werden müssen. Das hat sich nach dem bundesweiten Demos aufgrund der Correctiv-Recherche etwas verbessert. Das Waldheimer Bündnis hat sich dadurch zum Beispiel erst gegründet. Aber wir merken auch, dass wir hier nicht mehr sind als die Neonazis. Auf den Demos in den Großstädten feiern sich alle für die Demokratie und liegen sich in den Armen. Hier findet das so halt nicht statt. Wir sind halt nicht mehr.

Wir werden hier sogar als bedrohlich hingestellt, nur weil wir laut sind und dunkel gekleidet sind. Auf die Neonazis, die hier seit Jahren unangemeldet jeden Montag in der Stadt unterwegs sind, wird nicht eingegangen. Obwohl diejenigen es sind, die bedrohlich sind. Wir kämpfen hier wie früher immer noch gegen Windmühlen an.

Aktuell arbeiten wir daran, wie wir unsere Bündnisse am sinn-vollsten organisieren können, zum Beispiel was Förderung betrifft. Wir wissen ja nicht, wie es nach den Landtagswahlen weitergehen wird. Aber wir bleiben trotzdem da, wir machen trotzdem weiter.

Von der Jugendweihe in Köln bis zur Aktivistin in der sächsischen Provinz, für die Ostproben Aufnehmen haben die Studierenden des Masterstudiengang Multimedia und Autorschaft der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg mit 18 Menschen gesprochen. Sie wollten herausfinden, wie die Menschen sich und die Zuschreibungen an den Osten sehen. Dabei werden Stereotype bestätigt und hinterfragt, Realitäten eingefangen, Vergangenes und Utopien angesprochen. 

Über OSTPROBEN

Ist Osten nur eine Himmelsrichtung oder eine Frage von politisch-gesellschaftlichen Realitäten? Mit dieser Frage hat sich der aktuelle Jahrgang des Masters Multimedia und Autorschaft (MMA) im Sommer 2024 unter der Leitung von Maren Schuster und Christian Stewen journalistisch auseinandergesetzt.

Ankerpunkt war das Festival OSTEN (1. Bis 16. Juni 2024) in Bitterfeld-Wolfen. Die Studierenden sind für die Festivalbeiträge gemeinsam mit den beiden Wissenschaftler*innen den Fragen nach Zuschreibungen an den Osten nachgegangen und haben dafür im Sommer 2024 in Bitterfeld, Wolfen, auf dem Festival und anderswo ‚Ostproben‘ gesammelt.

Ein Projekt mit

Annika Seiferlein Master Multimedia und Autorschaft

In Kooperation mit

Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

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