Nicht nur ein ostdeutsches Problem, sondern ein Gesamtdeutsches

Gesine ist im Osten Deutschlands geboren und aufgewachsen. Zurzeit macht sie ihr Abitur in Leipzig  und engagiert sich seit Jahren im Bereich Schulpolitik. Sie erzählt, wie sie und Menschen  in ihrem Alter auf politische Themen in Sachsen schauen und was sie mit dem Begriff  „Ostdeutschland“ machen.

Carolin Körber führte das Interview.


Würdest du sagen, es gibt Themen, die für SchülerInnen aus ostdeutschen  Bundesländern besonders interessant sind? 

Ein großes Thema, was auch von den Landesschülervertretungen schon erkannt wurde,  ist Rechtsextremismus und der Rechtsruck. Ich bin jetzt in Leipzig an einer sehr liberalen  Schule, einer sehr linken Schule. Das merkt man da nicht so stark wie in der Schule im  Erzgebirgskreis. Aber das ist was, was schon, würde ich sagen, aus den  Ostbundesländern mehr kommt. Und da gab es auch vor einer Weile von den  LandesschülerInnenvertretungen von den ostdeutschen Bundesländern zusammen den  Aufruf, dass eben in der politischen Bildung mehr gemacht werden muss.  

Gibt es darüber hinaus Themen besonders für das ländliche Sachsen?

Schule ist Teil der Infrastruktur und die ist da einfach schlechter. Es gibt weniger  Schulbusse, die hinfahren. Es gibt nicht so viele junge Lehrkräfte, die aufs Land ziehen  möchten, um dort zu unterrichten. Es gibt vielleicht auch nicht das Know-how, wie man  Fördermittel beantragt für mehr digitale Tafeln oder sowas. Und dann ist es einfach so,  dass vielleicht auch junge Familien aus dem Land wegziehen, weil sie sehen: „Na ja, die  Schule in der Stadt ist vielleicht besser“. Und dann verstärkt sich das Problem natürlich. Das ist auch was, was man in Ostdeutschland noch mal mehr sieht als in anderen  Bundesländern.

Gesine

ist 2006 in Sachsen geboren und lebt heute in Leipzig. In der SchülerInnenvertretung auf Stadt- und Landesebene setzt sie sich für bessere Lernbedingungen, Gleichberechtigung und Nachhaltigkeit ein.

Was denkst du, wenn du Negatives über den Osten liest?


Das ist trotzdem auch der Ort, wo ich lebe. Und Sachsen – auch wenn da rechte Leute sind – hat in Dörfern und in kleineren Städten eine tolle, demokratische, junge Community, die es verdient, dort zu leben und ihre Sachen zu machen.

Und was die eher tendenziell antidemokratischen Stimmen angeht?


Es sind ja trotzdem ganz normale Menschen, die dort leben. Und das sind auch ganz normale Ängste, dass man irgendwie denkt: „Na ja, wie sieht denn meine Zukunft aus? Kann ich denn, wenn ich in der Lausitz lebe, den Lebensstandard halten, wenn meine ganze Familie in der Braunkohle arbeitet? Wie sieht es aus, wenn hier keine Braunkohle mehr ist? Was bedeutet das für mich?“.

Mit Blick in die Zukunft, was erhoffst du dir für die politische Zukunft hier – z. B. für die Landtagswahl im September?


Ich fange mal nicht mit den Wünschen, sondern mit dem Schlimmsten an. Ich habe Wahlprognosen gesehen und da dachte ich mir: Wenn jetzt SPD, Grüne und Linke unter fünf Prozent fallen, dann haben wir AfD, BSW und CDU im Landtag – zu dritt! Da dachte ich mir: Eigentlich möchte ich dann nicht mehr in Sachsen wohnen.

Was, denkst du, senden solche Wahlergebnisse für Signale über „den Osten“? Was passiert damit medial?


Dass darüber Urteile über die Menschen gefällt werden, die dort leben. Aber am Ende wird halt vor allem gesehen – oder auf Karten dargestellt: Was war die stärkste Kraft? Und natürlich ist dann die sächsische Karte wahrscheinlich hellblau. Und natürlich ist dann wahrscheinlich auch die Karte in Thüringen oder in Brandenburg viel hellblau. Aber die zweitstärkste Kraft ist dann trotzdem eine demokratische Partei. Und auch wenn 30 Prozent der WählerInnen AfD gewählt haben, haben 70 Prozent nicht AfD gewählt. Und dann denke ich mir: Irgendwie müsste man das dann mehr sehen.

Und warum?


Weil die AfD nicht nur ein ostdeutsches Problem ist, sondern ein gesamtdeutsches – und ein gesamteuropäisches! Und das kann nicht darauf geschoben werden, dass es halt mal die DDR war. Weil auch viele von denen, die jetzt in den ostdeutschen Bundesländern leben, die DDR nicht mehr miterlebt haben.

Nun bist du ja lange nach der Wiedervereinigung geboren. Inwiefern, denkst du, ist der Begriff „Osten“ noch wichtig für dich?


Man hat diese Begriffe Ost und West ja trotzdem irgendwie immer noch und ich glaube, dass diese Spaltung irgendwie noch da ist. Man sieht es immer mal auf verschiedenen Karten: So ist die Lohnverteilung, so ist die Altersverteilung, so wachsen die Bundesländer. Da hat man immer so einen Cut. Ich glaube aber nicht, dass es noch in unserer Generation so sehr wahrgenommen wird. Also es ist schon irgendwie da. Aber vielleicht werden die Unterschiede mehr aufgezeigt, wenn man aus dem Osten rausgeht.

Von der Jugendweihe in Köln bis zur Aktivistin in der sächsischen Provinz, für die Ostproben Aufnehmen haben die Studierenden des Masterstudiengang Multimedia und Autorschaft der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg mit 18 Menschen gesprochen. Sie wollten herausfinden, wie die Menschen sich und die Zuschreibungen an den Osten sehen. Dabei werden Stereotype bestätigt und hinterfragt, Realitäten eingefangen, Vergangenes und Utopien angesprochen. 

Über OSTPROBEN

Ist Osten nur eine Himmelsrichtung oder eine Frage von politisch-gesellschaftlichen Realitäten? Mit dieser Frage hat sich der aktuelle Jahrgang des Masters Multimedia und Autorschaft (MMA) im Sommer 2024 unter der Leitung von Maren Schuster und Christian Stewen journalistisch auseinandergesetzt.

Ankerpunkt war das Festival OSTEN (1. Bis 16. Juni 2024) in Bitterfeld-Wolfen. Die Studierenden sind für die Festivalbeiträge gemeinsam mit den beiden Wissenschaftler*innen den Fragen nach Zuschreibungen an den Osten nachgegangen und haben dafür im Sommer 2024 in Bitterfeld, Wolfen, auf dem Festival und anderswo ‚Ostproben‘ gesammelt.

Ein Projekt mit

Carolin Körber
Master Multimedia und Autorschaft

In Kooperation mit

Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

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